Wie setzt man ein Konzept wie Effectuation in der Praxis ein? Damit haben wir uns in der Ausbildung zum Effectuation Expert intensiv beschäftigt. Für meine Arbeit als agile Organisationsbegleiterin habe ich daraufhin verschiedene Mittel und Wege entwickelt, Effectuation beispielsweise in das Scaled Agile FrameworkⓇ  zu integrieren. In diesem Artikel möchte ich sieben Tipps mit Ihnen teilen.

Das Scaled Agile Framework (SAFeⓇ) beschreibt Praktiken, mit denen viele agile Teams gemeinsam ein komplexes Produkt entwickeln können. Dazu führt SAFeⓇ neben dem gemeinsamen Takt auf Team-Ebene (in der Regel 2-Wochen-Sprints) zusätzlich einen übergeordneten Planungszyklus ein. Dieser taktische Zyklus umfasst typischerweise 5 Sprints, 4 Sprints zur Weiterentwicklung des Produkts sowie einen 5. Sprint für Innovation und Planung, den sogenannten IP-Sprint.

1. Teams einschwingen

Das Wichtigste in der Arbeit mit agilen Teams ist, neuen Team-of-Agile-Teams-Formationen genug Zeit zu geben, um eingeschwungen zusammenzuarbeiten. Bevor man neue Entscheidungslogiken wie Effectuation einführt, braucht man einen stabilen Prozess. Das heißt: Die agile Arbeitsweise muss gut eingeführt werden und stabil laufen, bevor man sie häppchenweise für den nächsten Schritt öffnen kann.

Bei SAFeⓇ führe ich Effectuation gerne im Innovation & Planung-Sprint (IP-Sprint) ein, jedoch nicht gleich von Anfang an. Meist erinnere ich etwa ab dem zweiten 10-Wochen-Zyklus die Teams und ihr Management wieder an den IP-Sprint. Ich schlage vor, diesen Zeitraum wirklich für Innovation und damit zum Beispiel für Tools aus dem Werkzeugkoffer von Effectuation zu nutzen. Dies gelingt dann meistens auch im dritten oder vierten großen Zyklus.

2. Vertrauen schaffen

Während sich die Teams auf die agile Arbeitsweise einschwingen, ist es gleichzeitig wichtig Vertrauen bei den Teams und beim Management zu schaffen. Manager*innen haben oft Bedenken, dass beispielsweise offene Formate im IP-Sprint nicht sonderlich gewinnbringend sind, da sie die Ergebnisse nicht kontrollieren können. Wir müssen auch anerkennen, dass Innovation Zeit kostet, in der keine neuen Features entwickelt werden und die deshalb als wenig produktiv bewertet wird.

In solchen Situationen berufe ich mich auf die Standards und Good Practices des Frameworks: Der IP-Sprint für Innovation und Planung ist ein Teil der SAFe-Regeln und wurde bewusst in den großen Zyklus aufgenommen, weil sich dieses Vorgehen bewährt hat. Erfolgreiche Unternehmen geben ihren Teams Gelegenheit, Neues zu erforschen und eigene Ideen auszuprobieren, denn dies ist ein sehr wichtiger Quell für Lernen und für Innovationen, die ein Produkt oft erst richtig attraktiv machen. Außerdem ermutige ich Manager*innen schrittweise, es einfach einmal auszuprobieren und es darauf ankommen zu lassen: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass etwas Tolles herauskommt?

3. Leistbaren Verlust definieren

Der Wahrscheinlichkeit, dass etwas Tolles herauskommt, steht das Risiko verlorener Zeit und schlecht genutzter Ressourcen gegenüber. Da hilft sehr, dass der “leistbare Verlust” eines der fünf Effectuation-Prinzipien ist. Effectuation lädt uns dazu ein nur genau die Zeit, Infrastruktur, etc. einzusetzen, die wir bereit sind zu verlieren und uns “leisten” können. Wir richten unser Handeln also nicht an einem erwarteten Ertrag aus, sondern am leistbaren Verlust und schaffen uns somit einen sicheren Rahmen. Das startet damit, dass wir uns diese Ressourcen, die nutzbare Infrastruktur, die verfügbare Zeit, also Faktoren, die sich verbrauchen, bewusst machen.

Bevor ich mit agilen Teams tiefer in die Arbeit mit Effectuation einsteige, definiere ich diesen leistbaren Verlust mit ihnen und dem Management gemeinsam. Wie viel Zeit können wir “verkraften”, selbst wenn nicht direkt etwas “Produktives” passiert? Welche Infrastruktur können wir einsetzen? Es geht also darum, alle Beteiligten zu ermutigen und den Einsatz, die Kosten klar zu begrenzen. Die Teams selbst öffnen sich meist schnell und lassen sich für neue Denkmuster und Arten der Zusammenarbeit gewinnen.

4. Zum Experimentieren einladen

Sobald das Management einverstanden ist, im IP-Sprint ein neues Format auszuprobieren, initiiere ich, dass die Mitglieder aller Teams für einen Tag eingeladen werden. Das Prinzip der Freiwilligkeit ist mir hierbei sehr wichtig! Es gibt keinen Zwang, aber alle Neugierigen sind willkommen. So greift auch das Prinzip der Selbstselektion: Wer gerade nicht den Kopf frei hat für ein neues Format kann weiter an anderen Aufgaben arbeiten.

Die Erfahrung zeigt sogar, dass die meisten Teams hier ausgesprochen verantwortungsbewusst vorgehen. Ich erlebe oft, dass sie eine möglichst gute Balance anstreben, damit die Fertigstellung kritischer neuer Features sichergestellt wird, aber auch die Chancen eines ganzen Tages für Neues genutzt werden können. So nehmen ggf. nicht alle Mitglieder eines Teams die Einladung an.

5. Niederschwellige Angebote machen

Für mich bedeutet Effectuation im Kern, schnell und einfach ins Handeln zu kommen. In der Arbeit mit agilen Teams setze ich deshalb auf niederschwellige Angebote, wie zum Beispiel den Marktplatz der Macher*innen (Tool-Beschreibung als PDF). Der Marktplatz ist ein Tool für heterogene Teams, das durch Dialoge aus Ideen konkrete Vorhaben erwachsen lässt. Alle Teilnehmenden schreiben zunächst für sich alleine Ideen auf und besprechen sie dann in Vier-Augen-Gesprächen mit anderen. Aus diesen Ideen werden dann in mehreren hintereinander geführten Gesprächen Schnellboote mit einem Captain, meist dem ursprünglichen Ideengeber, und mit seiner Crew. Die Crew setzt sich aus denjenigen zusammen, die an dem Thema interessiert sind und sich und ihre eigenen Ideen dazu einbringen wollen.

Dieses Vorgehen mit kleinen Gesprächsrunden macht den Marktplatz viel entspannter als andere Kreativitäts-Tools. Beispielsweise müssen sich bei einem Open Space einzelne Teilnehmende mit “ihrer Idee” vor allen anderen präsentieren und um Mitstreiter*innen werben. In Gruppen mit eher introvertierten Menschen oder mit Teilnehmenden, die mit einem solchen Format noch ganz ungeübt sind, führt dies dazu, dass viele Ideen unausgesprochen bleiben. Der Marktplatz der Macher*innen minimiert das Risiko für Individuen und erlaubt es Effectuation als Haltung zu üben, ohne dass man die Theorie erklären muss.

6. Klare Spielregeln geben

Spielregeln geben Orientierung. Deshalb gebe ich Teilnehmenden beim Marktplatz der Macher*innen die folgenden Punkte an die Hand:

  • Macht, was ihr wollt, solange es nur irgendeinen sinnvollen Bezug zum Produkt hat: Schaut ein Video, lest ein Buch, analysiert und löst einen Bug, baut einen Prototyp für ein neues Feature… alles ist erlaubt!
  • Macht es nicht allein, sondern findet mindestens einen Follower! Im nächsten Schritt: findet mindestens einen Follower aus einem anderen Team.
  • Schnellboote müssen nicht im Hafen ankommen. Sie dürfen absaufen, das ist völlig okay und darüber darf sogar gemeinsam gelacht werden!

Außerdem denke ich mit den Teams über die Leitplanken für den Tag nach: Was wollen wir? Was wollen wir nicht? So können wir sicherstellen, dass wir alle grob in die gleiche Richtung marschieren.

7. Alle Schnellboote feiern

Das Einzige erwartete Ergebnis jedes Schnellbootes am Abend ist mit der gesamten Gruppe kurz zu teilen, was gelernt oder entdeckt wurde. Hier ein paar Beispiele aus meiner Praxis:

  • “Das Buch ist klasse, wir haben XYZ daraus gelernt.”
  • “Dieses Buch muss man nicht lesen, wir haben es in Kapitel 3 abgebrochen.”
  • “Den Prototyp für unsere Feature-Idee konnten wir für eine erste potentielle Anwendergruppe entwickeln – wir schätzen, dass wir mit 2 weiteren Tagen auch die übrigen Anwendergruppen berücksichtigen könnten.”
  • “Den Bug konnten wir lösen.”
  • “Den Bug konnten wir analysieren und haben jetzt eine Idee für die Lösung.”
  • “Wir haben entdeckt, dass der Bug nur vom Hersteller der Kauf-Komponente X gelöst werden kann.”
  • “Wir sind auf eine Idee gekommen, wie wir ein neues lukratives Lizenzmodell aufbauen können – das Konzept und erste Verprobung möchten wir gerne gleich morgen dem Produktmanagement vorstellen.”

Am Ende des Tages werden deshalb alle Schnellboote gefeiert – die, die abgesoffen sind, genau wie die, die bei einem guten Ziel angekommen sind. Gute Lösungen für bestehende Probleme, tolle Ideen für neue Features im nächsten Zyklus zu finden, ist genauso wertvoll wie Sackgassen zu identifizieren. Deshalb wird auf alle Schnellboote das Wasserglas erhoben.

Bei Unternehmen mit relativ flachen Hierarchien bitte ich das Management zu dieser Feier dazu. Bei eher großem Hierarchiegefälle stelle ich sicher, dass dem Management im Nachhinein berichtet wird und ich begleite das immer. Sonst wird aus der ausgelassenen Stimmung möglicherweise schnell eine Situation, in der nur Gefälligkeiten ausgetauscht werden und nicht über wirklich wertvolle Erkenntnisse berichtet wird, was einfach schade ist. Eine begeisterte Email vom Management über alles, was in so kurzer Zeit erreicht wurde, folgt sowieso – ganz sicher. Ich habe es noch nie anders erlebt.

Birgit Mallow ist Dipl.-Informatikerin und seit rund 20 Jahren als Unternehmensberaterin und Organisationsentwicklerin tätig. Als ausgebildete Systemisch-Agile Organisationsbegleiterin und Facilitator begleitet und coacht sie mit Leidenschaft die Einführung agiler Arbeitsweisen, agiler Skalierung, Transformationen zur agilen Organisation sowie die Entwicklung unternehmerischer Expertise und Innovation. Moderne Organisationsmodelle nutzt sie undogmatisch für mehr Lebendigkeit, Agilität und Wertschöpfung ihrer Kunden. In ihren Arbeitsansatz integriert sie Effectuation und unterstützt damit Individuen, Teams und Organisationen in Situationen großer Ungewissheit gute Entscheidungen zu treffen und strukturiert ins Handeln zu kommen.

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